Niklaus Schmid


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Kurzkrimi Nr. 6

Kurzkrimi Nr. 6


Kalt, stumm und friedlich

Gemächlich lenkte Götz Schirmer das Reisemobil durch die Landschaft der Rocky Mountains. Er blickte mal nach rechts, mal nach links, wo hinter den Scheiben ein schier unendlicher Naturfilm ablief: Wälder, durchschnitten vom silberigen Band eines Flusses, hin und wieder ein kreisender Raubvogel über schroffen Felsen.
...Zum ersten Mal seit zwei Wochen konnte Schirmer den Urlaub genießen. Niemand befahl ihm, schneller zu fahren, niemand verlangte, dass er anhielt und Kaffee kochte, niemand lag ihm mit den Verkaufszahlen des vergangenen Jahres und mit der Vorgabe für das laufende Jahr in den Ohren.

*

..Doch noch mehr als all das waren Schirmer die ständigen sexuellen Anspielungen auf die Nerven gegangen. „Erinnert Sie das nicht an ein knabenhaftes Hinterteil?“, hatte er sich zum Beispiel anhören müssen, wenn sie durch ein Tal fuhren, das von zwei sanften Hügelkuppen flankiert wurde.
...Mit solchen Sticheleien war es jetzt vorbei. Bis auf das Summen der Räder auf dem Asphalt war es herrlich still in dem Wagen – denn Möllenhof, Schirmers Reisegefährte und Abteilungsleiter, lag in dem Etagenbett des Aufbaus und war der leiseste und friedlichste Chef, den man sich nur wünschen konnte.
...Möllenhof war tot.
...Schirmer pfiff sich eins. Ja, der ewig schwitzende, ewig laute, dicke Hermann Möllenhof war nun so kalt und stumm wie die Lachse, die sie noch gemeinsam aus dem Fluss gezogen hatten. Dort unten am Fluss war es auch passiert.
...Möllenhofs Angelschnur hatte sich verheddert. „Könnten Sie das mal in Ordnung bringen?“, hatte er mehr befohlen denn gefragt und sich eine Zigarre angesteckt. Paffend hockte er auf einem Felsvorsprung, derweil Schirmer das Knäuel aus Vorfach, Haken und Schnur entwirrte, um anschließend probeweise mit dem biegsamen Rutenende die Luft zu peitschen.

..„Na, Schirmer, träumen Sie davon? Ein paar Hiebe auf den Allerwertesten sollen ja das Vergnügen steigern.“
...„Ach, ja?“
...„Nun tun Sie mal nicht so. Fräulein Herzog hat mir doch von Ihrer Vorliebe erzählt. Ja, gleich nachdem ich sie von Ihnen weg und zu mir ins Vorzimmer geholt hatte. Tüchtige Bürokraft, die gute Andrea, schmale Hüften, nur kleine Brüste, aber kräftige Oberarme.“ Er grinste anzüglich um seine Zigarre herum.
...Schirmer fädelte die Schnur durch die Ösen, ließ die Rollen surren und schwieg beharrlich.
...„Geht mich als Abteilungsleiter natürlich nichts an, wie Sie Ihre Freizeit verbringen“, fing Möllenhof wieder an. „Aber andererseits gibt es für einen Vorgesetzten ja so etwas wie Verantwortung und Fürsorgepflicht.“
...„Wie meinen Sie das?“
...„Seien Sie froh, dass ich Ihnen die Kleine ausgespannt habe, irgendwann wäre es doch im Betrieb durchgesickert. Mit Ihrem Ansehen, mit Ihrer Karriere wäre es dann vorbei gewesen. Menschenskind, Schirmer, Sie, eine Führungskraft, und sich dann von einer kleinen Angestellten durchbimsen lassen! Was gucken Sie so? Von mir erfährt niemand ein Sterbenswörtchen über Ihre, ha!, schlagende Verbindung.“

**

...Er lachte, nuckelte an der Zigarre wie ein Riesenbaby an der Milchflasche und plapperte weiter: „Schwamm drüber! Aber wussten Sie eigentlich, dass die liebe Andrea auch nicht abgeneigt ist, ihren süßen Po hinzuhalten? Aber ja doch, ein guter Streich im richtigen Augenblick wirkt wie Sekt auf das Mädel, und ist billiger. Hm.“
...Sein Puttengesicht kriegte einen genießerischen Ausdruck. „Da staunen Sie, was? Tja, ein bisschen langsam sind Sie schon, Schirmer. Was ist nun, haben Sie das verdammte Ding immer noch nicht klarbekommen?“
...Schirmer schluckte, er konnte es einfach nicht fassen. Der Dicke saß da, sonderte lauter Müll ab, ließ sich bedienen und hatte anscheinend nur eine Sorge, dass die lange Asche nicht zu früh von seiner Zigarre fiel. Dieser Stinkstiefel! Ganz ruhig hob Schirmer die Angelrute, wippte ein paar Mal, nahm Maß, schlug zu – im hohen Bogen flog die Zigarre ins Wasser.
...Aber die Zigarre nicht allein, der Dicke flog mit; weil er vor Schreck aufgesprungen und mit seinen Gummistiefeln auf dem glitschigen Untergrund ausgerutscht war. Wie ein Käfer lag er da auf dem Rücken, ruderte mit den Armen, strampelte mit den Beinen.
...Ein Bild zum Piepen, und Schirmer konnte sich nicht mehr halten, er prustete und schrie vor Lachen; selbst

dann noch, als Möllenhof vor Wut rot anlief und giftete: „Schirmer, Sie Null, von wegen Chefetage! Ich werde dafür sorgen, dass Sie auf dem Pförtnerposten landen. Ja, lachen Sie nur, bald wird die ganze Firma über Sie lachen!“
...Der Dicke stieß noch weitere Drohungen aus, während Schirmer schon auf ihn zuging und im Gehen einen der faustgroßen Steine aufnahm, ohne sich recht bewusst zu sein, was er damit eigentlich wollte. Nun gut, einen Schlag vielleicht, um ihm das Schandmaul zu stopfen – aber dann waren es doch ein paar mehr geworden.
...Danach hatte er Möllenhof in das Reisemobil geschleppt und überlegt, wie es weitergehen sollte. Schließlich konnte er ihn doch nicht einfach am Fluss liegen lassen und auf die Frage des Firmenvorstandes, wo der Boss sei, mit einem Schulterzucken antworten.
...Das hatten die Herren nun von ihrer grandiosen Idee, dass der Vertriebschef zusammen mit seinem zweiten Mann im Mutterland der Bluejeans einen Erlebnisurlaub machen sollte. Wie hatte es der Betriebspsychologe ausgedrückt? Das Zusammenleben auf dem engen Raum eines Reisemobils mitten in der Weite einer fremden Landschaft werde den Gemeinsinn fördern.
...Und dann hatte er noch den Spruch losgelassen von der Chemie, die zwischen den Männern an der Vertriebsspitze stimmen müsse.

***

...Wird schon klappen, nickte Schirmer seinem Spiegelbild zu. Mit etwas Glück bekomme ich in der Firma Möllenhofs Posten, mit Andrea im Vorzimmer, und werde zudem noch als Held gefeiert. Er war richtig stolz, wie kühl er die Sache anging. Wahrlich, er konnte mehr als nur Jacken und Hosen aus Jeansstoff verkaufen.
...Schirmer drückte die Taste des Autoradios, ließ lässig einen Arm aus dem Seitenfenster hängen und klopfte den Takt aufs Karosserieblech. Er stellte sich vor, wie die Kollegen im Büro arbeiten mussten, und dieser Gedanke steigerte sein Wohlgefühl noch um einiges. Schnurgerade zog sich die Straße, mal bergauf, mal bergab. Linkes Rad am Mittelstreifen, es war gemütlich wie Straßenbahnfahren.
...Nachdem das Reisemobil die Anhöhe genommen hatte, sah er den Straßenkreuzer, ein cremefarbenes Cabriolet. Es stand mit geöffneter Kühlerhaube am Straßenrand, entgegen Schirmers Fahrtrichtung. Reflexartig trat er auf die Bremse.
...Die Frau auf dem Fahrersitz trug einen Strohhut, den sie mit einem Schal unter dem Kinn befestigt hatte. Von der zweiten Person waren nur die Hosenbeine und ein schmales Hinterteil zu sehen, der Rest steckte unter der Motorhaube.
...„Schwierigkeiten?“, rief Schirmer hinüber.

...Die Frau hinter dem Steuer schaute ihn nur misstrauisch an. Schirmer wollte schon wieder anfahren, als die Person, von der er angenommen hatte, sie wäre ein Mann, sich ihm zuwandte. Ihr sympathisches Gesicht war ölverschmiert, ihr Haar lang und blond. Mit einer Gebärde der Hilflosigkeit ließ sie die Hände mit den übergroßen Arbeitshandschuhen sinken.
...„Er macht keinen Mucks mehr. Könnten Sie wohl aus dem nächsten Ort einen Abschleppwagen vorbeischicken?“
...Typisch amerikanische Frauen, dachte Schirmer, außer Abschleppwagen fällt denen nichts ein. Er war kein Mechaniker, aber wenn so ein Schlitten gar nichts mehr sagte, lag es meistens nur an einer Kleinigkeit. Er stieg aus, krempelte beim Überqueren der Straße die Hemdsärmel auf und beugte sich über den Motorblock.
...Die Frau mit dem Strohhut stieg aus, die Blonde brachte Werkzeug heran. Schirmer streifte sie mit einem Seitenblick, ihre Puppenaugen, der Bonbonmund; er nickte, blickte tiefer und bemerkte, dass sie unter der eng anliegenden Hose keine Wäsche trug. Er hatte einen Blick dafür, wusste, dass die schmalhüftigen Fotomodelle ohne Höschen in die
Jeans stiegen.

****

...Zu seiner Freude, wenngleich nicht allzu überrascht, bemerkte er, dass die Blonde näher an ihn heranrückte, als es bei den Handreichungen unbedingt erforderlich gewesen wäre. Landschaften prägen ihre Bewohner, ging es ihm durch den Kopf. Dies ist ein weites, offenes Land, und sicher lebt hier ein offenherziger, großzügiger Menschenschlag. Wenn du dich geschickt anstellst, sagte er sich, kann sich noch was Nettes ergeben, mit der Blonden. Oder sogar mit beiden zusammen.
...Schon nach kurzer Zeit fand er den Fehler. Eine Überwurfmutter hatte sich gelöst. Die Blonde reichte ihm das Werkzeug. Ein passender Schraubenschlüssel war nicht vorhanden, aber eine Rohrzange tat es auch.
...„Jetzt mal starten!“, rief er über die Schulter.
...Zuerst hörte er gar nichts, und als schließlich doch das Anlassergeräusch ertönte, kam es von der anderen Straßenseite. Ein paar Schritte lief Schirmer noch hinter seinem eigenen Wagen her, sah rechts und links je einen winkenden Arm, dann gab er es auf.

...Schirmer fluchte. Zwar gehörte das Reisemobil einer Agentur, doch sein Bargeld, seine Reiseschecks, seine Papiere, die Ausrüstung – alles weg. Alles? Plötzlich musste Schirmer hemmungslos lachen wie selten zuvor; genauer gesagt, so hemmungslos wie beim Anblick seines hingestürzten Chefs.
...„Jetzt sind die dummen Hühner mit dem toten Möllenhof auf Achse“, jubilierte er ein über das andere Mal. „Die Leiche bin ich los, und eine gute Erklärung habe ich obendrein.“
...Immer noch kichernd setzte er sich ans Steuer des Cabriolets. Er musste es einige Male versuchen, doch dann kam der Motor in Gang, satt und einwandfrei. Dass die Nadel der Benzinanzeige bei der roten Markierung tänzelte, machte ihm keine großen Sorgen.
...Pfeifend fuhr er dahin, noch weit unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von rund hundert Kilometern pro Stunde. Selbstverständlich musste er den Diebstahl des Reisemobils bei dem nächsten Polizeirevier melden, jedoch eilig hatte er es damit natürlich nicht.

*****

...Nach zwanzig Kilometern blieb der Motor mit einem Blubbern stehen. Ohne viel Hoffnung, einen Reservekanister vorzufinden, ging Schirmer zum Kofferraum. Doch der Deckel ließ sich nicht öffnen. Zum Glück waren die Polster des Chevrolets groß und weich wie Omas Sofa.
...Etwa eine Stunde später weckte ihn das Brummen eines Lastwagens. Doch Schirmers Winken bewirkte nur, dass der Fahrer das Gaspedal tiefer durchdrückte. Mit der großen Hilfsbereitschaft, die man den Bewohnern einsamer Landstriche ja nachsagt, war es wohl doch nicht so weit her.
...Die Sonne neigte sich, und die schrägen Strahlen gaben den Bergen einen violetten Faltenwurf. In der Ferne heulte ein Wolf, vielleicht war es aber auch nur ein Hund. Schirmer kauerte sich auf dem Sitz zusammen. Es kühlte schnell ab in den Bergen. Aber das war nicht der einzige Grund, warum sich seine Haut zusammenzog. Ihm fiel ein, dass fast alle Verkehrsschilder, die er passiert hatte, von Schüssen durchlöchert gewesen waren.

...Das nächste Fahrzeug war ein Polizeiwagen. Schirmer fühlte einen Stich in der Magengrube. Du bist froh über ihr Erscheinen, zwang er sich zur Ruhe, du bist schließlich das Opfer eines Straßenraubs.
...Die Polizisten stiegen aus, ein schlanker Farbiger und ein breitschultriger Weißer. Ganz betont hielten sie ihre Hände dort, wo sichtbar ihre Waffen baumelten. Der Farbige blieb stehen, der Weiße kam auf drei Schritt heran.
...„Aussteigen, Hände auf die Kühlerhaube!“
...Er sprach mit einer Autorität, die ihm nicht nur der gezogene Revolver verlieh. Schirmer gehorchte. Der Polizist tastete ihn ab, gekonnt und schnell.
...„Okay, das musste leider sein, Mister. Zurzeit treibt sich allerlei Gesindel in der Gegend rum, nichts für ungut.“
...„Ich bin ja richtig froh, dass Sie da sind. Es ist nämlich so ...“
...„Sie reden so komisch.“ Der Polizist musterte Schirmer argwöhnisch. „Sind Ausländer, was?“

******

...„Ja, Tourist, komme aus Deutschland. Ich, das heißt, wir sind ...“
...„Oh, mein Großvater war auch Deutscher. Mein Name ist Berger, Jeff Berger.“ Der Hüne steckte der Revolver ein, sein Gesicht hellte sich auf. „Na, dann gute Fahrt und Vorsicht mit Anhaltern! Ist schon einiges vorgekommen.“
...„Hören Sie, das ist nicht mein Wagen.“
...„Verstehe.“ Berger tippte gegen das Firmenzeichen eines Mietwagenunternehmens, das an der Windschutzscheibe klebte.
...„Also, mein Partner und ich …“, versuchte es Schirmer erneut.
...„Was ist mit Ihrem Partner?“
...„Er ist weg, unser Reisemobil auch, mit zwei Frauen. Ich wollte noch hinter ihnen her, aber dann ...“ Schirmer hob die Schultern.
...„Kein Sprit, was? Verstehe.“ Berger lächelte nachsichtig. „Fremde verschätzen sich leicht mit den Entfernungen bei uns, hier es gibt’s nicht alle naselang ’ne Tankstelle wie in Old Germany. – He, Lou!“ Eilfertig nahm er die Schlüssel des Chevrolets an sich und

warf sie seinem Kollegen zu. „Hau diesem Gentleman den Reservekanister rein!“
...
„Mein Großvater kam aus Bavaria“, nahm Berger den Gesprächsfaden wieder auf.
...„Passt keiner!“, rief Lou ärgerlich dazwischen.
...„Die Kerle von den Leihwagenfirmen halten ihre Kutschen nicht in Ordnung“, schimpfte Berger, indem er zum Wagenheck ging. „Na, dann haben sie selber schuld.“
...Schirmer hörte ihn mit seinen Cowboystiefeln gegen das Blech des Kofferraums treten. Der Deckel sprang auf. „So, das hätten wir“, meinte Berger daraufhin in verändertem Tonfall. „Können Sie mal rumkommen, Mister?“
...Seltsamerweise stach Schirmer zuerst die blonde Langhaarperücke ins Auge. Dann sah er die zusammengekrümmte Gestalt eines dünnen Mannes. Neben dem kahlen, blutverschmierten Kopf lag eine schwere Rohrzange.
...„Nein, ich war’s nicht!“, stammelte Schirmer. Es war die Wahrheit, aber er wusste, dass man ihm nicht glauben würde.

- ENDE -
.....


Aktualisiert am 15. November 2021 | kontakt@niklaus-schmid.de

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