Niklaus Schmid


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Kurzkrimi Nr. 7

Kurzkrimi Nr. 6


Auf Weihnachtsengel schießt man nicht

So hatte sich Gottfried Born die Weihnachtswoche nicht vorgestellt. Schneeregen am Montag, am Dienstag rammte ihn ein Radfahrer, heute der Ärger mit dem Hausbesitzer, und die Rente war auch noch nicht eingetroffen.
...In dieser verzweifelten Stimmung erreichte er seine Wohnung im obersten Stockwerk eines Hauses, das aus besseren Zeiten stammte, jetzt aber einen recht schäbigen Eindruck machte. Außen bröckelte der Putz von der Fassade, innen wucherte der Hausschwamm, und von der hohen Stuckdecke tropfte das Wasser. Weil der Besitzer nichts reparieren ließ, war die Hälfte der Mieter bereits ausgezogen.
...„Ich bleibe!“, murmelte Born trotzig und stieß die Tür auf.
...Er griff nach dem Lichtschalter. Die Glühbirne in der Deckenlampe leuchtete auf; doch heute verbreitete sie nur schummriges Licht. Es war wie verhext.

*

. Borns zweiter Griff galt der Kornflasche. Es gab eben Tage, an denen half, um nicht gänzlich zu verzweifeln, nur ein kräftiger Schluck.
...„Trinkst du immer allein?“, fragte eine helle Stimme.
...Born setzte die Flasche ab, ganz vorsichtig drehte er sich um. In seinem alten Polstersessel saß ein Engel, knapp mannsgroß und goldblond, ein Flügel war leicht abgeknickt, der andere stand aufrecht.
...Born schloss die Augen, öffnete sie wieder - das Bild blieb.
...„Noch nie einen Weihnachtsengel gesehen?“
...„Wie ... was ... warum ...?“ Ihm fehlten die Worte.
...„Immer dieselben Fragen. Durchs Fenster bin ich gekommen, und helfen will ich dir“, lispelte der Engel.
...Oder besser die Engelsfrau.
...Denn ganz deutlich erkannten Borns Augen, die sich mittlerweile an das Zwielicht gewöhnt hatten, die beiden Wölbungen, die, groß und rund und steil, das enge Glitzerkleid an der richtigen Stelle spannten. Darüber ein kirschroter Mund, und Augen mit Wimpern wie Maikäferfühler.
...Born vergaß den Schmerz in seinem Bein und spürte stattdessen ein Ziehen in der Herzgegend, das jedoch alles andere als unangenehm war. So etwas hatte er seit Jahren nicht mehr gefühlt.
...„Aber zuerst trinken wir einen“, sagte die Engelsfrau, als hätte sie seine Gedanken erraten.
...„Hab kein Glas sauber.“

...„Macht nichts.“ Routiniert wie ein Bauarbeiter wischte sie mit der Hand über den Flaschenhals, nahm einen ausgiebigen Schluck und stöhnte wohlig auf: „Ah, das tut gut bei dem Sauwetter.“
...„Sie haben ... Sie sind ...“
...„Fee Fahrenheit, sag Fee zu mir“, schlug die Engelsfrau vor, indem sie Born die Flasche reichte.
...Born verzichtete darauf, den Flaschenhals abzuwischen. Nichts, aber auch gar nichts hätte ihn an diesem reinlichen Himmelswesen ekeln können.
...Er trank, und in seinem Magen verbreitete sich eine angenehme Wärme. Wahrscheinlich war das Ganze ein Scherz, aber er konnte ja mal darauf eingehen.
...„Helfen?“, fragte Born. „Aber wie? Und was müsste ich dafür tun?“
...„Nichts, ist doch Weihnachtszeit.“ Der Engel kreuzte die Arme über der Brust. „Oder sagen wir mal: eine Tüte Wunderkerzen.“
...Bei diesen Worten begannen die Flügelspitzen zu zucken. Ein gespannter, ängstlicher Ausdruck trat in die großen Augen. Auch Born hatte das Poltern gehört.
...Jemand kam die Treppe hochgestürmt.
...Schon flog krachend die Wohnungstür auf, und ein bulliger Mann schob sich ins Zimmer. Er trug einen Jutesack, an den Füßen Fellstiefel, auf dem Kopf eine schwarze Mütze und in der Armbeuge eine doppelläufige Jagdflinte.

**

...„O je, Knecht Ruprecht, der Scheißkerl!“, wisperte die Engelsfrau. „Bis morgen dann!“
...Mit zwei Hüpfern - flatter, flatter - war sie durch den Vorhang, der den Raum abtrennte, weiter ins Nebenzimmer und dort durch die Balkontür. Eine Sekunde oder zwei hielt der Engel auf dem Vorbau inne, blickte nach rechts, blickte nach links, die goldfarbenen Flügel wippten, dann schwang er sich über die Brüstung.
...Born stockte der Atem - vier Stockwerke ging es tief.
...„Tja, ist mir das gefiederte Biest wohl entwischt“, brummte der ganz in Schwarz gekleidete Kerl.
...Im Hinausgehen griff er sich die Schnapsflasche, betrachtete das Etikett mit der Aufschrift Wünschelburger Korn, nickte und genehmigte sich einen Schluck.
...„Nichts für ungut, Opa.“
...Als die Schritte im Treppenhaus verhallt waren, schlurfte Born auf seinen Balkon. Er schnupperte. Wie üblich roch die Luft nach Rauch, doch dazwischen duftete es auch zart nach Marzipan und nach einem süßen Parfüm.
...Zu dem Blick über das Balkongeländer musste er sich regelrecht zwingen.
...Unten im Innenhof brannte ein Feuer. Die Jugendlichen, die sich im Erdgeschoss eingenistet hatten, kokelten mal wieder. Der Feuerschein fiel auf überquellende Mülltonnen, auf Sträucher und Gräser
jener Art, die stark genug waren, den Asphalt

zu durchbrechen.
...
Von dem Engel keine Spur.
...Noch lange stand Born auf dem Balkon, schüttelte ab und zu den Kopf oder starrte gedankenverloren auf die Blumenkästen, in denen er seit dem Tod seiner Frau Blumen, Kräuter und Gemüse zog, Petersilie, Rosenkohl, Endiviensalat.
...Ob Else ihm die Geschichte mit dem Weihnachtsengel geglaubt hätte?

~

Als Born am folgenden Morgen aufwachte, glaubte er selbst nicht mehr so recht an den Besuch des Weihnachtsengels. Er stellte den Wasserkessel auf den Gasherd, doch nach kurzer Zeit erlosch die Flamme. Born ahnte, wer ihm das Gas abgedreht hatte.
...Aufgeben? Nein! Er würde sich einen Tauchsieder kaufen, damit käme er auch über die Runden. Für einen schnellen Kaffee oder eine heiße Brühe reichte es; und richtige Mahlzeiten zu kochen, die Mühe machte er sich schon lange nicht mehr.
...Else war eine gute Köchin gewesen, und auch sonst hatte sie es verstanden, ihren Gottfried zufrieden zu stellen. „Habe ich nicht schöne Beine?“, hatte sie oft beim Kochen gefragt und ihren Rock gelupft. Selbst im fortgeschrittenen Alter hatten die beiden noch ihren Spaß aneinander gehabt. Dass es am Lebensabend
mit dem Sex vorbei ist, glaubten doch sowie nur die
jungen Leute.

***

...Im Gegenteil, das Alter hatte sogar seine Vorteile. Wer nicht arbeitet, verfügt auch am helllichten Tag über Zeit für die Liebe. Gar nicht selten hatte Else ihn tagsüber mit den Worten „Komm, Friedel, ich zeige dir die neuen Vorhänge!“ ins Schlafzimmer gelockt. Wie gern war er immer darauf eingegangen, obgleich sie ihm dann doch nur die altbekannten Sachen vorführte.
0...Born seufzte wehmütig. Nach Elses Tod hatte kein weibliches Wesen mehr seine Wohnung betreten. Sein Blick streifte den Sessel, in dem - na ja, da hatte ihm ganz sicher seine Phantasie einen Streich gespielt.
...Mit dem Einkaufsnetz in der Hand verließ er die Wohnung.
...Im Hausflur traf er einen der Halbwüchsigen aus dem Erdgeschoss. Born hatte nichts gegen seine neuen Nachbarn. Sie sahen ein wenig verwahrlost aus, aber sie respektierten ihn. Dass sie keine Miete zahlten, war nicht seine Sache. Der Junge trug eine Schaffelljacke, hockte im Türrahmen und machte den Eindruck, als hätte er schon seit Wochen kein Tageslicht mehr gesehen.
...Born erkundigte sich bei ihm nach einem Kerl mit Schießgewehr. „Bullige Gestalt, dunkler Anzug.“
...Der Junge schüttelte den Kopf. „Unser Viertel ist bullenfrei. Und auch die schwarzen Sheriffs trauen sich doch gar nicht her. Haste mal was Kleingeld, Opa?“
...Born langte in die Tasche.
...In der Kaffeebude traf er Willi, der in einem Hinterhof Kaninchen züchtete. Wie üblich war Willi schnell beim Thema Nummer eins: seine Belgischen Riesen, wie

groß, wie schön, wie lecker die waren. Born hörte nur mit einem Ohr zu, seine Gedanken waren heute ganz woanders. Etwas aufmerksamer wurde er erst, als Willi in seinem Vortrag einen Haken zu den Wildkaninchen und Feldhasen schlug.
...„Es gibt Zeiten, da sind die Weibchen scharf bis in die Fellspitzen, ob junger Rammler oder alter Bock, jeder darf sie mal bespringen.“
...„Tatsächlich, die Alten auch?“
...„Aber sicher doch, von wegen der wahnsinnigen Erfahrungen und wegen der ausgefeilten Technik, die ja gerade die Alten haben.“
...„Du, Willi, sag mal, meinst du, dass es menschenähnliche Wesen gibt, die Flügel haben? Etwa so groß.“ Born hielt die Hand an seine Nasenspitze.
...„Ausgeschlossen!“ Doch dann wiegte Willi den Kopf. „Andererseits, man hört ja immer, dass die Wissenschaftler in ihren Labors an den Genen rumfummeln. Weißt schon, Gottfried, endlos lange Schweine, Mäuse, denen menschliche Ohren wachsen und so weiter. Also, wundern würde mich nichts.“
...Nachdenklich schlürfte Born den Rest aus seiner Kaffeetasse. „Bis dann!“
...Auf dem Heimweg sprangen ihn aus allen Schaufenstern Weihnachtsengel an. Sie waren aus Schokolade, aus bunter Pappe, aus Plastik oder
Plüsch und hatten meist recht menschliche Gesichtszüge.
...Aber nicht ein Engel blickte mit Klimperaugen wie Fee Fahrenheit.

****

...Born kaufte den Tauchsieder, dann Brot, eine Flasche Wünschelburger Korn und zuletzt eine Tüte Wunderkerzen. Nicht für den Engel, ach wo, Wunderkerzen sollte man einfach immer im Hause haben.
...„Find ich wirklich lieb von dir“, sagte der Engel Fee Fahrenheit, als Born die Wohnung betrat. Sie deutete auf die Wunderkerzen. Ihre nächste Bewegung umschloss die feuchten Wände, die ärmliche Einrichtung und den nun nutzlosen Gasherd. Mit ebenso viel Bedauern wie Entschlossenheit sagte sie:
...„Ich hol dich hier raus aus dem Schlamassel.“
...„Und wie?“, fragte Born.
...„Kommst einfach mit mir mit!“
...„Ja, aber wohin?“
...„In den Wald, hab da ein Häuschen, nichts Großartiges, aber für uns zwei beide reicht es.“
...Sie schlug die Beine übereinander, wippte mit dem rechten Fuß und lächelte.
...Einmal die seidige Haut streicheln, dachte Born, nur einmal mit den Händen über die Flügel und die sanften Wölbungen fahren. Wie ein Schlafwandler bewegte er sich mit ausgestreckten Armen auf das Wunschbild zu.
...Doch kurz vor dem Ziel riss ihn ein Poltern wie das vom Vortage aus seinen Träumen. Das Lächeln in den Augen der Engelsfrau war nun verschwunden, sie blickte sogar ziemlich wütend.
...„Komm schon!“, sagte sie hastig und hielt dem alten Mann die Hand hin.
...Born zögerte.

...Und dann war es zu spät. Die Tür flog auf, wieder stürmte Knecht Ruprecht herein. Noch im Türrahmen riss er die Flinte hoch, legte auf den Engel an - und schoss.
...Aber es war schlechtes Büchsenlicht. Der erste Schuss verfehlte das Ziel, beim zweiten störte Born den Kerl, und ehe dieser dann nachladen konnte, war der Engel aus dem Zimmer geflohen und hatte sich wie beim letzten Mal über die Brüstung geschwungen.
...„He, machst du gemeinsame Sache mit diesem flatterhaftem Gesindel?“, schnaubte ihn der Dunkelmann an.
„Nein, nein! Nur, ist doch ein Weihnachtsengel, und auf Weihnachtsengel schießt ...“
...„Wollte ich auch nicht geraten haben“, unterbrach ihn der Flintenkerl.
...Er verschwand, zurück blieb der Geruch nach Schießpulver.

~

„Also, hier ist das Geld“, sagte wenig später ein Mann mit glattem Gesicht und gepflegten Händen. Er teilte ein Bündel Banknoten in vier gleiche Teile. Ein Päckchen gab er einem bulligen Kerl in schwarzer Kleidung, eins schob er einer Frau zu, die in einem Engelskostüm steckte und rauchte.
...„Nur die Hälfte“, maulte die Engelsgestalt, eine schon leicht verbrauchte Schönheit, mit angeklebten Wimpern und dick übermaltem Kussmund.

*****

...„Den Rest bei Erfolg, so war es ausgemacht“, entgegnete der Mann und versenkte die beiden übrigen Geldbündel in den Taschen seines teuren Zweireihers.
...„Hätte heute schon klappen können“, sagte die Engelsfrau. „Alles seine Schuld.“ Sie schürzte die Lippen und blies Rauchkringel in Richtung des Bulligen. „Dickwanst ist zu früh reingeplatzt. Der kommt ja immer zu früh“, bemerkte sie zweideutig und lächelte gemein.
...„Klappe!“
...„Ist doch so“, beharrte sie streitbar. „Ein paar Minuten später, und Opi wäre mit mir gesprungen. Ich habe die schwerste Aufgabe.“
...„Wieso?“, blaffte der Kerl. „Andere zahlen Geld dafür, sich mit so 'nem Gummidings in die Tiefe stürzen zu dürfen.“
...„Bungeejumping von einem Kran oder einer Brücke, das ja, aber nicht von einem Balkon, wie ich das tun muss. Die Sache mit dem Gas und dem Dämmerlicht musste auch ich ...“
...„Schluss jetzt!“, unterbrach sie der gutgekleidete Mann. „Wann ist er soweit?“
„Morgen“, sagte die Engelsfrau. „Falls Dickwanst nicht wieder zu früh reinplatzt.“

~

„Wie war der Tag?“, erkundigte sich der Engel Fee Fahrenheit, als Born am späten Nachmittag von seiner Runde nach Hause kam.
...Der alte Mann winkte müde ab. Sein Bein schmerzte. Dazu noch Heiligabend, ein trauriger Tag, die Straßen leer, die Kaffeebude geschlossen, keinen einzigen seiner Bekannten hatte er getroffen.
...„Ich mag die Feiertage nicht“, murrte er, „und Heiligabend mag ich am allerwenigsten, weil danach noch der erste Weihnachtstag und der zweite Weihnachtstag folgen.“

...„Mein Angebot steht“, lockte der Engel.
...„Und das Waldhaus hat wirklich einen Garten?“
...„Claro, für Salat, Kräuter und Gemüse.“ Sie streckte die Hand aus. „Nee, nee, wir nehmen besser meinen Weg. Weißt doch, der Dickwanst mit dem Schießgewehr.“
...Als diesmal das Poltern ertönte, nickte Born.
...Gemeinsam traten sie hinaus auf den Balkon. Es dämmerte bereits, ohne dass es den Tag über richtig hell gewesen wäre, typisches Winterwetter. Kein Vogel sang, und selbst die Pflanzen in den Blumenkästen, der Rosenkohl und der Endiviensalat, waren urplötzlich vergilbt und ließen die Blätter hängen.
...Während Opa Born einen letzten Blick auf die Dächer der Nachbarhäuser warf, hakte die Engelsfrau das Gummiseil in eine Öse des Geschirrs, das sie unter dem Glitzerkostüm mit den Engelsflügeln trug.
...Dann stieg sie mit ihm auf die Balkonbrüstung. Dann sprangen die beiden.
...Hand in Hand, doch auf unterschiedliche Weise.
...Gottfried Born ließ sich einfach fallen; und er fiel so, wie ein überreifer Apfel vom Baum fällt, wenn seine Zeit gekommen ist. Die Engelsfrau aber stieß sich mit aller Kraft vom Vorbau ab, sprang kopfüber. Das Springen machte ihr Spaß. Ganz besonders genoss sie immer den Moment, wenn sie kurz vorm Erdboden von dem Gummiseil hochgezogen wurde: ein Augenblick der Schwerelosigkeit, ein Gefühl wie der Höhepunkt beim Liebesspiel.
...Bedenken hatte sie nie gehabt.
...Heute war es anders. Als sie so mit offenen Augen dem Boden zustürzte, durchzuckte sie jäh der Gedanke, dass dieser Sprung anders als gewöhnlich enden würde.
...„Wer zum Teufel hat denn hier den Schaufelbagger abgest... !“


Aktualisiert am 1. Februar 2022 | kontakt@niklaus-schmid.de

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